Verkehrspolitik des Bundes gegen ländlichen Raum?
„Der Bund steht nach Art. 87e des Grundgesetzes bei der Finanzierung der der barrierefreien Bahnhöfe in der Verantwortung“ so CSU-Landtagsabgeordnete Barbara Becker aus dem Kreis Kitzingen. „Das wird in der aktuellen Diskussion über die Fortführung des 9-Euro-Tickets und in der damit zusammenhängenden Diskussion um die Regionalisierungsmittel des Bundes vergessen!“ ergänzt ihr Fraktionskollege aus dem Kreis Roth, Volker Bauer. Aktuell habe der ländliche Raum mit Blick auf die Verkehrspolitik des Bundes von Barrierefreiheit bis Lärmschutz viel zu oft das Nachsehen.
Barrierefreiheit selbst in Kreisstädten an Ausbaustrecken nicht absehbar
Zum bundesweiten „Tag der Schiene“ am 16. und 17. September wurden vielerorts barrierefrei umgebaute Bahnhöfe eingeweiht. Der Freistaat Bayern fördert den Umbau freiwillig allein im Jahr 2022 mit knapp 23 Millionen Euro. In den VGN-Kommunen Weißenburg, Georgensgmünd und Kitzingen aber hatten die Menschen keinen Grund zum Feiern. Trotz Ein-/Aussteigerzahlen zwischen 1.000 und 4.000 stehen die Bahnhöfe der Kreisstädte und des Tores zum Seenland nicht auf der Liste der in den kommenden Jahren barrierefrei auszubauenden Bahnhöfe. „Uns muss klar sein, dass von Streckenreaktivierungen niemand träumen braucht, solange noch nicht einmal die Hälfte der knapp über tausend Bahnstationen in Bayern barrierefrei ausgebaut sind“, so die Stimmkreisabgeordnete des unterfränkischen Kreises Kitzingen Barbara Becker.
Es sollen Milliarden für die Stammstrecke in München ausgegeben werden. Und gleichzeitig spare der Bund selbst dort, wo durch monatelange Vollsperrung der Ausbaustrecke der barrierefreie Ausbau erleichtert möglich wäre. Bahnhöfe an Ausbaustrecken wie Kitzingen, Georgensgmünd und Weißenburg priorisiert auszubauen sei Wunsch der Staatsregierung, so die Antwort des damaligen Staatssekretärs im Innenministerium Gerhard Eck im Juli 2017: „Die Staatsregierung fordert vom Bund […] künftig bei Ausbauprojekten des Bedarfsplans Schiene alle entlang der Ausbaustrecken liegenden Stationen barrierefrei ausbauen zu lassen und dies mit Bedarfsplanmitteln zu finanzieren. Hierzu hat die Staatsregierung eine breite Allianz der Länder hergestellt und in der letzten Verkehrsministerkonferenz am 28. April 2017 einen einstimmigen Beschluss erwirkt.“
Getan hat sich in den vergangenen fünf Jahren, ungeachtet der Parteizugehörigkeit der Bundes-verkehrsminister, jedoch wenig. „Daher hängen viele Kommunen in der Luft, etwa bei Planungen und mancherorts in Haushalten eingestellten Millionenbeträgen für Mobilitätsdrehscheiben am Bahnhof, von denen auch die umliegenden Kommunen profitieren“, betont die CSU-Haushaltspolitikerin die Haltung der Bayerischen Staatsregierung. Diese will sich nur an einer Fortsetzung des 9-Euro-Tickets beteiligen, wenn der Bund mehr Mittel für die Bestellung von Zügen und den beschleunigten Ausbau barrierefreier Bahnhöfe investiert. „Erst muss es heißen „für Alle“, dann können wir sagen „für Alle günstiger“, so Becker am Rande ihrer mehrtägigen Campingaktion am Bahnhof Kitzingen im Vorfeld des vom VdK organisierten Demo-Spaziergangs „barrierefreier Bahnhof Kitzingen“ am 8. Oktober.
Kleine Orte drohen trotz belegter Belastung beim Lärmschutz beständig vergessen zu werden
Neben fehlender Barrierefreiheit, beklagt Beckers Fraktionskollege Volker Bauer auch „eine Haltung des Bundes beim Lärmschutz an Straßen in Verantwortung des Bundes, bei der ich es verstehen würde, wenn öfter Misthaufen vor’m Bundesverkehrsministerium liegen würden“. Der gelernte Handwerksmeister aus dem Kreis Roth gilt als bodenständig und ausgleichend. Nach über sieben Jahren persönlicher Gespräche mit den Menschen vor Ort, Schriftwechseln sowie ausgeschlagenen Ministerbesuchen und Anregungen, zeigt er sich jedoch spürbar genervt, vom „irgendwie symptomatischen“ Agieren des Bundesministeriums das Dorf Lohen (Markt Thalmässing) an der A9 im nördlichen Naturpark Altmühltal betreffend.
Erstmals habe Bauer sich 2015 gemeinsam mit der damaligen Bundestagsabgeordneten Marlene Mortler ans Bundesverkehrsministerium gewandt. Wenn beim Ortstermin 90 von 95 Einwohnern da sind und erklären: „wir haben die Schnauze voll. Wir rücken mit der Feuerwehr mehrmals im Jahr aus, um zum Beispiel Menschen aus zusammengeschobenen Autos auf der Autobahn zu schneiden. Leisten sollen wir und die Kommune die notwendige Ausrüstung finanziert. Aber unsere Klage über immer weiter steigende Lärmbelastung wird seit Jahren ignoriert“, dann sei kein Ruhmesblatt für verschiedene Bundesminister, die den Weg nach Lohen nie fanden.
Der Landtagsabgeordnete recherchierte Verkehrsfrequenzen und Lärmberechnung. Kritisierte, dass Messung abgelehnt werde. Und erhielt wiederholt zur Antwort, dass eine Lärmsanierung auf freiwilliger Basis angesichts gegebener Grenzwerte und rechnerischer Ergebnisse knapp nicht möglich sei. 2020 wurden die Grenzwerte abgesenkt. Bauer lud den Gebietsleiter der zwischenzeitlich durch Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer privatisierten Autobahn GmbH zum Ortstermin. Auskunft: Lohnen erfülle zwar nun theoretisch die Kriterien für eine Lärmsanierung ohne Rechtsanspruch. Da durch Absenkung der Grenzwerte aber weitere Betroffenheiten in dichter besiedelten Gebieten entstanden seien, würde Lohen nicht vor 2030, sprich nach über 15 Jahren zum Zuge kommen – vorbehaltlich zwischenzeitlicher Änderungen.
Nach erster Ernüchterung krempelte Bauer gemeinsam mit Michael Kreichauf, 2020/21 geschäftsführender Bürgermeister des Marktes Thalmässing und im Haupterwerb Tiefbauunternehmer, gedanklich die Ärmel hoch. „Wir dachten uns: vielleicht hat die Privatisierung ja doch einen Vorteil, wenn die Autobahn GmbH des Bundes angehalten ist, wirtschaftlich zu arbeiten. Wir haben also den Vorschlag unterbreitet, bei einem Projekt, das rund 800.000 Euro Planungs- und Baukosten ausmacht, einbaufähiges Material zur Errichtung eines effektiven Walles im Wert von knapp 100.000 Euro beizusteuern. Dass der Abraum, den man beim Ausbau vor Jahren nur kostensparend bei Seite geschoben hat und der inklusive Bewuchs keine drei Meter hoch ist, keine Wirkung hat, wurde zuvor bereits mehrfach bestätigt,“ so Bauer.
Die erhoffte und beim ersten Termin als „vermutlich möglich“ bezeichnete, frühere Umsetzung wurde wenige Wochen später aber verneint. Begründung: „nicht ausreichende Planungskapazitäten aufgrund von Stellenmangel im Zuge der Privatisierung“. Sollte die Kommune jedoch auch die Organisation und Kosten der Planung (fünfstelliger Eurobetrag) übernehmen, könnte es klappen. Bauer wandte sich in der Folge an Staatsminister Christian Bernreiter, ob auf freiwilliger Basis eine Pilotförderung zur Erstellung eines entsprechenden Leitfadens denkbar sei, da im ländlichen Raum vermutlich zahlreiche Kommunen vor ähnlicher Herausforderung stünden. Dieser kam nach Lohen, verneinte eine Förderung, versprach aber dem Direktor der Autobahn GmbH des Bundes im persönlichen Gespräch zum, als „pragmatisch-synergiestiftend“ bewerteten, „Deal“ raten.
In den folgenden Wochen wurden Vorplanungen in Anwesenheit des Abgeordneten Bauer zwischen Autobahn GmbH und der Kommune besprochen – und vollzog der Bund abermals eine Kehrtwende. Entgegen vorheriger Absprachen wurde dem Markt Thalmässing mitgeteilt: eine frühere Umsetzung des in der Verantwortung des Bundes liegenden Lärmschutzbauwerks ist nur möglich, wenn die Kommune Organisation und Kosten komplett trägt – abzüglich einer pauschalen Planungskostenförderung von 30.000 Euro. „Nicht nur dass es wahnwitzig ist, dass ein kommunaler Bauhof eine Autobahnbaustelle „nebenbei“ managt. Auch dass der Bund versucht, sich seiner Verpflichtungen zu entledigen auf Kosten einer kleinen Kommune im ländlichen Raum, die ihm die Hand reicht, um Lösungen für die Menschen voranzubringen, ist ein starkes Stück“, so Kreichauf. „Wenn wir bis 2030 warten und die Grenzwerte wieder angepasst werden, dann sind kleine Orte wie Lohen wieder die Gelackmeierten“, zeigt sich auch Bauer verärgert. Mit Antrag zum CSU-Parteitag im Oktober fordert er darum: Lärmschutzbauten sollen nicht mehr an der Zahl der Betroffenen, sondern der Dauer der festgestellten Belastung abgearbeitet werden.
Gleichzeitig hinterfragte Bauer gemeinsam mit dem 2021 gewählten Wahlkreisabgeordneten im Deutschen Bundestag Ralph Edelhäußer (CSU) nochmals die durch das Bundesverkehrsministerium erhaltene Auskunft, bei 70.000 Fahrzeugen und zusätzlich immer weiterwachsendem Aufkommen an Schnellzügen pro Tag sei in Lohen nur Lärmsanierung ohne Rechtsanspruch möglich. „Wir sind auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Ausbau der A8 im Gebiet der Gemeinde Raubling aus 2007 gestoßen“, schildert Bauer. Darin wird klargestellt, dass bis dreißig Jahre nach Verkehrsfreigabe Anwohner Anspruch auf Lärmvorsorge – nicht Sanierung – haben, wenn sich die Lärmwirkung in nicht vorhersehbarem Ausmaß entwickelt. „Da der Ausbau der A9, auf der nach der Wende der Verkehr immens zugenommen hat, bei uns im Kreis Roth aber bereits in den 1980ern erfolgte, sagt das Bundesverkehrsministerium: Pech gehabt“, schildert Bauer und widerspricht: „Aber im Gerichtsurteil ist auch klar definiert, wann von einem auslösenden Ausbau entlang einer gebündelten Verkehrsachse gesprochen wird: wenn Werte auf mindestens 70/60 db(A), um mindestens 3 db(A) ansteigen, wenn mindestens eine durchgängige Fahrbahn hinzugefügt wird oder wenn mindestens ein Schienenstrang in den letzten dreißig Jahren hinzugefügt wird.“ Dies sei durch die Verkehrsfreigabe der Schnellfahrstrecke Nürnberg-Ingolstadt im Mai 2006 und die zugenommene Verkehrs- und Lärmbelastung auf dem Verkehrswegbündel „A9 + Bahntrasse“ gegeben.
Dies gelte es auf Seiten des Bundes anzuerkennen. Denn, so Bauer und Becker am Rand der Klausurtagung der CSU-Landtagsfraktion übereinstimmend: Eine Politik bei der, oft seit Generationen in ihren Heimatorten verwurzelte Menschen entlang der Autobahnen und Bahntrassen mit ihren Steuern staatlich subventionierte Zugtickets oder den Infrastrukturausbau in den Metropolen finanzieren sollen, aber durch Lärmbelastung, Einsatz im Ehrenamt und ein Vertrösten bei Barrierefreiheit und Lärmschutz nur die Belastungen tragen, sei eine Politik gegen den ländlichen Raum.