75 Jahre BayVerf – Gespräch in Erinnerung an zweifachen Verfassungsgeber aus Kammerstein
Nürnberg. Ein Trümmerhaufen. Kriegsnarben auch in vielen anderen Städte in Bayern. Ausgebombte, Kriegsrückkehrer, Flüchtlinge und Heimatvertriebene bevölkern das von den US-Amerikanern besetzte Land. 1946, das Jahr nach nationalsozialistischer Terrorherrschaft und dem Zweiten Weltkrieg. Und das Jahr, in dem sich Bayern, in Anknüpfung an lange eigenstaatliche Tradition, im Herbst eine Verfassung gab. Mit dabei: der damalige Kammersteiner Bürgermeister, Landwirt und langjährige Landtagsabgeordnete Heinrich Haiger.
Anlässlich dieses Jubiläums trafen sich im Kammersteiner Bürgerhaus, ca. 150 Kilometer entfernt vom Geburtsort der 2. Bayerischen Verfassung in der Aula der Münchner Universität, Haiger Nachnachnachnachfolger im Bürgermeisteramt Wolfram Göll, Haigers Enkel, der langjährige Gemeinde- und Kreisrat Heinrich Volkert, sein Urenkel Landtagsabgeordneter Volker Bauer sowie die CSU-Abgeordneten des Kreises Roth in Brüssel und Berlin Marlene Mortler und Ralph Edelhäußer zu einem Gespräch über 75 Jahre Bayerische Verfassung, Subsidiarität, Landwirtschaft und Extremismus.
Video zum Gespräch unter https://fb.watch/9HkjO55gM5/
Bauer: Der Landtag hat ja 12 Orte in Bayern als „Orte der Demokratie“ ausgezeichnet. Ich finde das gut. Dort haben sich besondere Dinge abgespielt. Man denke an die Verabschiedung der 1. Bayerischen Verfassung hier bei uns in Franken im Bamberger Spiegelsaal; weil in München Abgeordnete den Bürgerkrieg, den die AfD heute in Chats herbeiwünscht, in die Tat umzusetzen wollten und der Ministerpräsident im Landtag erschossen wurde. Auf der anderen Seite greift diese Betrachtungsweise aber auch etwas kurz. Vor allem unser kleines Kammerstein zeigt, dass Demokratie, dass Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit eine breite Verwurzelung und nicht nur einige wenige Orte braucht.
Göll: Stimmt wohl. Wenn man bedenkt, dass Demokratie auf dörflicher Ebene schon vor der ersten Bayerischen Verfassung funktioniert hat. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, bereits der Vorläufer unserer heutigen bayerischen Verfassung hat von den kommunalpolitischen Erfahrungen derjenigen profitiert, die da in Bamberg Zuflucht vor Rechts- wie Linksextremisten gesucht haben und parteiübergreifend eine Verfassung entwarfen. Zumindest bin ich mir sehr sicher, dass das bei eurem Vorfahren und meinem Vorvorvorvorgänger als Kammersteiner Bürgermeister Heinrich Haiger so war. Wenn man sich die Bayerische Verfassung besieht, zeigt sich zum einen eine viel gelobte literarische Schönheit, zum anderen die starke Stellung des Föderalismus und des Subsidiaritätsprinzips; also auch der Kommunen.
Bauer: Heiner, du hast deinen Großvater und meinen Urgroßvater ja selbst noch erlebt. Teilst du die Einschätzung, dass die politische und generelle Verwurzelung der Verfassungsväter in allen Landesteilen und vielen Berufsständen sich segensreich ausgewirkt hat?
Volkert: Ich bin kein Jurist. Und von der Verfassungsfindung 1919 kann ich natürlich auch wenig berichten. Aber alles was ich gelesen habe, muss sie wohl recht gut gewesen sein. Damals war der Landtag ja auch noch wirklich Souverän. Das Reich stand bis 1933 nicht über den Ländern. In Teilen war die 1. Bayerische Verfassung von 1919 ja auch Inspiration für die Zweite von 1946. Das muss man nämlich wissen. Mein Großvater Heinrich Haiger war einer von wenigen Menschen, die beide Bayerischen Verfassungen mit auf den Weg gebracht haben.
Göll: Als Kammersteiner Bürgermeister, wohlgemerkt!
Bauer: Naja, wohl eher als Landtagsabgeordneter und Gründungsmitglied der CSU.
Volkert: In vielen Rollen, 1946 extra für die Versammlung gewählt. Aber es ist generell ein bemerkenswertes Leben. 1890, als Heinrich 13 Jahre alt war, stirbt sein Vater. Ich bin mir sicher, er musste als Bub richtig anpacken, legt aber als Agrarfachmann das hin, was man heute „Bildungsaufstieg“ nennen würde; bis zum Landesökonomierat! Aber ihr habt schon recht. Die Betrachtung des Politikers Heinrich Haiger lohnt. So viele 31-jährige Bürgermeister hatten wir im Kreis Roth glaube ich nicht. Heinrich hat das ab 1908 quasi nebenher gemacht, genauso wie Kreisrat und verschiedene Ämter im Landwirtschaftsbereich. Mit 42 haben ihn die Menschen um Schwabach denn in den Landtag gewählt. In dieser Funktion hat er 1919 in Bamberg die Verfassung mitberaten.
Edelhäußer: Und er konnte damals weiterhin Bürgermeister bleiben.
Volkert: Ja. Bis 1932, als seine nationalliberale Partei durch das Erstarken der Nationalsozialisten an Zustimmung einbüßte, war er Abgeordneter. Das Bürgermeisteramt verlor er ein Jahr später.
Bauer: Aber nicht, weil er abgewählt wurde, sondern weil die Nazis ihn absetzten, weil er ihnen bis 1932 im Landtag deutlich widersprochen hat! Darauf bin ich als Nachfahre durchaus stolz.
Volkert: Ja. Ich war nur Gemeinderatsmitglied. Aber ich stell mir das echt hart vor, für einen so politischen Menschen wie meinen Großvater, wenn du als Demokrat vor absoluter Herrschaft und Krieg warnst, dann quasi mundtot gemacht wirst und dann frisst der Krieg, den die Nazis entfacht haben, auch noch deinen Schwiegersohn und Hofnachfolger, meinen Vater. Damals war mein Großvater 65 Jahre alt.
Mortler: Nach allem, was ich gelesen habe, hat er in einem Alter, in dem Menschen heute in Rente gehen, nochmal Verantwortung auf dem Hof übernommen. Er hat in der damals noch nicht von Maschinen geprägten Landwirtschaft nochmal angepackt. Und er hat sich nach dem Ende der Naziherrschaft als Bürgermeister, zu Zeiten der Entnazifizierung, und als Leiter des für die konfliktreiche Organisation von Lebensmitteln für die notleidende Bevölkerung zuständigen Ernährungsamtes nicht vor Verantwortung gedrückt. Fast nebenbei hat Heinrich Haiger noch eine Verfassung mit auf den Weg gebracht. Das muss Kraft gekostet haben. Ich verneige mich
Edelhäußer: Wir ärgern uns heute über Bürokratie, nicht ideale Förderkulissen und vielleicht Streitigkeiten in den Kommunen, wenn es um Infrastruktur geht. Aber das muss doch damals alles andere als ein Spaß gewesen sein, wieder harmonisch mit denen zu arbeiten, die die Nazis eifernd unterstützt haben, die ihn absetzten, die den Krieg wollten, der ihm seinen Schwiegersohn nahm, die sich vielleicht auch noch gegen die Einquartierung oder Abgaben für Flüchtlinge quer gestellt haben. Das war doch damals nicht alles „heile Welt“, nur weil die Amis einmarschiert sind, oder?
Volkert: Also, als Kind bekommt man ja wirklich nicht alles mit, auch wenn die Stube des Haigerhofes, auf dem ich bis heute lebe, damals ja die Amtsstube war. Aber ich kann so viel sagen: Probleme zu lösen gab’s genug. Da sind viele Leute in der zweiten Amtszeit meines Großvaters von 1945 bis 1952 ein und aus gegangen.
Bauer: Und das Spannende dabei ist ja, dass mein Urgroßvater nicht wie viele nach der Nazizeit „genug von Politik“ hatten, nicht nur im vorgerückten Alter vor Ort den „Neustart“ mit organisiert hat. Er wollte mehr und hat unter anderem die CSU in der Region mitgegründet als überkonfessionelle Partei auf christlichem Wertefundament. Damals ein fast revolutionäres Konzept.
Göll: Und eines mit vielen Spannungen, wie ich dir als langjähriger Bayernkurier-Redakteur sagen kann. Ich glaube Seehofer versus Söder war Kindergarten gegen das, was der 1. Vorsitzende der CSU Josef Müller und sein katholisch-konservativer Widerpart Alois Hundhammer inklusive ihrer jeweiligen Lager in den ersten Jahren geliefert haben – bis hin zur Uneinigkeit in Fragen der Verfassungsgestaltung. Es ist spannend, dass sich bereits in der Verfassungsgebenden Versammlung zeigt, wie vital Demokratie nur 1,5 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Bayern war. Denn die Frage eines eigenen bayerischen Staatspräsidenten wirkte auf CSU und SPD, die großen Parteien der Versammlung, spaltend. Also stellte Müllen den CSU-Abgeordneten – nach einer ihm nicht genehmen, internen Probeabstimmung – ihr Abstimmverhalten frei. Im Ergebnis wurde ein eigener Staatspräsident mit 85 zu 84 Stimmen abgelehnt. Ich weiß nicht, auf welcher Seite euer Großvater damals stand. Aber vielleicht hat Markus Söder als Ministerpräsident auch wegen ihm heute vergleichsweise viele Kompetenzen.
Bauer: Naja, in Bayern übernehmen ja auch unsere starken Landtagspräsidentinnen Repräsentations- und Integrationsfunktion und andere, von der Verfassung eingeführte, Institutionen, wie der Senat, wurden zwischenzeitlich durch Volkswillen abgeschafft. Das muss man ja auch mal sagen: auch wenn unsere Bayerische Verfassung inklusive Staatsbürgerschaft seit 1949 wohl zugedeckt unter dem Grundgesetz ruht. Sie ist noch reichlich vital, wenn ich mir ansehe, was in den letzten 75 Jahren durch Volksbegehren alles geändert wurde – von Gemeinschaftsschule über Umweltschutz, kommunale Bürgerbegehren, Bekenntnis zur Europäischen Einigung und geschlechtlicher Gleichstellung bis hin zu gleichwertigen Lebensverhältnissen und Schuldenbremse.
Der Volksentscheid über die Annahme der von der Verfassungsgebenden Versammlung beschlossenen Verfassung fand gleichzeitig mit der Landtagswahl am 1. Dezember 1946 statt. Von rund vier Millionen Wahlberechtigten gingen 75,7 Prozent zur Wahl und stimmten zu 70,6 Prozent mit Ja. Sie trat am 8. Dezember 1946 in Kraft, obgleich die amerikanische Militärregierung auch weiterhin die Oberhoheit ausübte und sich eine Genehmigung von Gesetzen vorbehielt. Im Mai 1949 lehnte der Bayerische Landtag nach Marathon-Sitzung das Grundgesetz mehrheitlich ab, erkannte aber dessen Gültigkeit für Bayern an, so dass viele Artikel (u.a. die Staatsbürgerschaft) der Bayerischen Verfassung heute von Bundesrecht überlagert werden.